Die bisher größte Gehirnkartierung zeigt, wie und wann neurologische Erkrankungen entstehen

Ein internationales Konsortium hat erstmals detaillierte Zelltyp-Atlanten des sich entwickelnden Gehirns erstellt. Sie zeigen Entstehung, Reifung und kritische Entwicklungsphasen und bieten Ansatzpunkte für künftige Therapien.

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Digitale Karte der Gehirnverbindungen: Visualisierung der neuronalen Netzwerke zur Analyse und Diagnose im Bereich Smart Health Diagnostics


Die BRAIN Initiative Cell Atlas Network (BICAN) hat erstmals umfassende Atlanten der Zelltypen des sich entwickelnden Gehirns erstellt. Die Atlanten umfassen menschliche, Maus- und Primaten-Gehirne und liefern eine multimodale Darstellung der Gehirnentwicklung von der Embryonalphase bis zum postnatalen Wachstum.

Sie sind die erste systematische Übersicht darüber, wie sich verschiedene Zelltypen im Gehirn bilden, reifen und interagieren.

Dabei geht es nicht nur um die Bestandsaufnahme von Zelltypen, sondern auch um ihre räumliche Anordnung, Interaktionen und Veränderungen, die zu neurologischen Erkrankungen beitragen können. Die Daten und Werkzeuge von BICAN stehen der wissenschaftlichen Gemeinschaft weltweit zur Verfügung und sollen die Erforschung des Gehirns beschleunigen.

Zelltypen entstehen in Wellen

Die Atlanten basieren auf Einzelzell- und räumlicher Genomik. Sie zeigen, dass Zelltypen nicht zu festen Zeitpunkten erscheinen, sondern in überlappenden Wellen entstehen.

Stammzellen differenzieren sich zu Neuronen und Gliazellen, während bestimmte Entwicklungsprogramme auch nach der Geburt reaktiviert werden können. Diese Dynamik verdeutlicht, dass das Gehirn flexibel auf interne und externe Einflüsse reagiert.

Postnatale Reifung und Sinnesbeeinflussung

Besonders auffällig ist die Entwicklung der GABAergen Neuronen im visuellen Cortex. Neue Zelltypen entstehen auch nach der Geburt, etwa in Phasen wie der Öffnung der Augen oder den ersten visuellen Erfahrungen.

Die Daten zeigen, dass Sinneswahrnehmungen die Gehirnentwicklung stärker beeinflussen, als bisher angenommen.

Die postnatale Reifung verlängert die neuronale Diversifizierung und ermöglicht Anpassungsfähigkeit und Lernen.

Einblicke in Krankheitsmechanismen

Die Atlanten ermöglichen die Identifikation von Zelltypen, die möglicherweise mit Krankheiten in Verbindung stehen.

Eine Vorläuferzelle wurde als potenziell mit Glioblastomen assoziiert identifiziert. Glioblastome sind besonders aggressive Hirntumoren, die aus Gliazellen entstehen, das umliegende Gewebe stark infiltrieren und nur schwer vollständig entfernt werden können.

Die entdeckte Vorläuferzelle weist Eigenschaften auf, die unkontrolliertes Zellwachstum begünstigen könnten, und liefert damit Hinweise darauf, wie solche Tumoren entstehen und sich entwickeln.

Zudem lassen sich Zeitfenster bestimmen, in denen genetische Risiken für psychiatrische Erkrankungen besonders hoch sind. Diese Informationen bieten eine Grundlage für gezielte therapeutische Interventionen in kritischen Entwicklungsphasen.

Vergleich zwischen Arten

Der Vergleich der Gehirnentwicklung zwischen Mensch, Maus und Primaten zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch menschliche Besonderheiten. Während das Gehirn einer Maus in etwa 35 Tagen ausreift, dauert die menschliche Entwicklung rund 20 Jahre. Diese verlängerte Reifung, Neotenie genannt, ermöglicht komplexe Fähigkeiten wie Sprache, Lernen und Anpassung, erschwert aber experimentelle Modellierung.

Grundlage für Modelle und Simulationen

Die Zelltyp-Atlanten von BICAN liefern eine wichtige Grundlage, um Mini-Gehirne im Labor (Organoide) und Tiermodelle besser zu entwickeln und zu erforschen.

Sie ermöglichen Simulationen der Gehirnentwicklung, die Analyse molekularer Mechanismen und die Untersuchung neuronaler Netzwerke. Forscher können so besser verstehen, wie sich neuronale Diversifizierung, Wahrnehmung und Verhalten entwickeln.

Perspektiven für Forschung und Therapie

Mit diesen Atlanten entsteht erstmals ein vollständiges Bild des sich entwickelnden Gehirns auf zellulärer Ebene. Die Daten liefern die Grundlage für präzisere, zell- und genbasierte Therapien und die Optimierung experimenteller Modelle für neurologische Erkrankungen. Die Atlanten sind ein entscheidender Schritt hin zu einem tieferen Verständnis von Gehirnentwicklung, Funktionsweise und Krankheitsentstehung.

Quelle

BICAN (2025). A cell census of the developing human brain. Nature, 5. November 2025.