Sensation: Qumran-Schriftrollen älter als bislang angenommen? KI datiert Schriftrollen vom Toten Meer um
Sind die berühmten Textzeugnisse aus Qumran früher entstanden? Forscher haben die Schriftrollenfragmente mithilfe künstlicher Intelligenz untersucht – und kamen zu überraschenden Ergebnissen. Muss die Schriftgeschichte des antiken Judäa umgeschrieben werden?

Eine neue Studie rüttelt an den Grundfesten der bisherigen Entstehungszeit biblischer Texte. Denn Forscher haben herausgefunden, dass viele der berühmten Qumran-Schriftrollen deutlich älter sind als bislang angenommen.
Weil die genaue Chronologie der Handschriften jedoch umstritten ist und Lücken von einigen hundert Jahren aufweist, haben Forschende unter der Leitung von Mladen Popovic vom Qumran-Institut der niederländischen Universität Groningen nun eine Neudatierung vorgenommen. Dazu haben sie die klassische Radiokarbondatierung mit einer speziell entwickelten künstlichen Intelligenz (KI) kombiniert.
Frühere Datierungen lückenhaft
Die Entdeckung der Schriftrollen in Höhlen am Toten Meer gilt seit Jahrzehnten als eine der bedeutendsten archäologischen Funde, um die jüdische und christliche Frühgeschichte zu rekonstruieren. Doch bisherige Datierungsversuche stützten sich größtenteils auf paläografische Analysen, also die Untersuchung alter Handschriften nach Stilmerkmalen. Dieses Verfahren ist jedoch problematisch: Es beruht auf subjektiven Einschätzungen, und es fehlen ausreichende Vergleichstexte mit sicherer Datierung.
„Aber es ist essenziell, die genaue Chronologie dieser handgeschriebenen Manuskripte zu ermitteln“, erklärt Popovic. Denn nur so lasse sich verstehen, wie theologische Ideen und historische Entwicklungen im frühen Judentum und Christentum ineinandergreifen.
Um diese chronologischen Leerstellen zu füllen, entwickelte das Forschungsteam einen zweistufigen Ansatz. Zunächst wurden 30 Manuskriptproben aus Qumran, Masada und weiteren Höhlen mittels Beschleuniger-Massenspektrometrie radiokarbondatiert, wobei das Ergebnis bereits überraschte: Die meisten dieser Texte sind älter als bislang angenommen, einige sogar deutlich.
Zwei biblische Schriftrollen-Fragmente neu datiert
Besonders hervor sticht das Fragment 4Q114, das einen Abschnitt aus dem biblischen Buch Daniel enthält. Bisher wurde dieser Text auf etwa 160 v. Chr. datiert, doch die neue Radiokarbondatierung weist auf eine Entstehungszeit bis zu 70 Jahre früher hin.
Im zweiten Schritt entwickelten die Wissenschaftler das KI-System Enoch, benannt nach dem jüdischen Helden der Wissenschaft aus alten Texten. Es wurde mit den radiokarbondatierten Proben trainiert und hat gelernt, geometrische Merkmale der Schrift – wie Winkel, Kurven und Buchstabenformen – mit bestimmten Zeitperioden zu verknüpfen. Anschließend setzte das Team die KI auf 135 bislang undatierte Fragmente an.

Das Resultat: Enoch konnte für die 135 Texte Altersschätzungen mit einer durchschnittlichen Abweichung von nur etwa 30 Jahren liefern. Und auch hier bestätigte sich, dass viele Manuskripte älter sind als bisher gedacht.
Ein herausragendes Beispiel ist das Fragment 4Q109, eine Abschrift aus dem Buch Kohelet. Zwar vermuteten Experten schon lange, dass dieses alttestamentarische Buch im dritten Jahrhundert v. Chr. verfasst wurde, doch ein tatsächliches Textzeugnis aus dieser Zeit fehlte bislang. Enoch datiert das Fragment nun genau in diese Epoche.
Die Neudatierung liefert damit einerseits neue Anhaltspunkte, wann zentrale religiöse Texte entstanden sind, und stellt andererseits auch etablierte Annahmen zur hebräischen Schriftentwicklung infrage.
So zeigen etwa die Ergebnisse, dass die sogenannten hasmonäische und herodianische Schriftvarianten früher entwickelt wurden und sich zeitlich stärker überlappen als bislang angenommen. Das deutet insgesamt auf eine komplexere Schriftgeschichte im antiken Judäa hin, die nun neu geschrieben werden muss.
Die Kombination aus physikalischer Datierung und KI-gestützter Handschriftanalyse könnte künftig wegweisend bei der Erforschung antiker Texte werden. Denn durch Enoch können subjektive paläografische Deutungen quantifizierbar gemacht werden – ein Meilenstein für die Geschichtsforschung.
Quellenhinweis:
Popović, M., Dhali, M. A., Schomaker, L., van der Plicht, J., Lund Rasmussen, K., et al. (2025): Dating ancient manuscripts using radiocarbon and AI-based writing style analysis. PLOS ONE, 20, 6. e0323185.